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Drehleier

 

Drehleier [Bild 1]
[Michael Praetorius: Syntagma Musicum II, 1619.
(Reprint) Bärenreiter Kassel 1958]

 

auch Radleier, Bauernleier, Bettlerleier

 

Bezeichnung:

von mhd. lire, ahd. lira, zu griech. lyra - lat. organistrum, symphonia, volkssprachl. cinfonie, chifonie, frz. vielle á roue [= „Rad-Fidel“], ital. lira tedesca oder lira rustica, engl. hurdy gurdy, port. sanfona, span. zanfona

 

Bau und Funktion:

Bei der Drehleier ist erstmals ein (gestrichenes) Saiteninstrument mit dem Prinzip der Klaviatur kombiniert. Es sind die unterschiedlichsten Korpusformen überliefert: kasten-, gitarren-, birnen- oder später viola- und lautenförmig mit 3 - 6 Melodie- und Bordunsaiten.

 

Die Saiten verlaufen über ein senkrecht stehendes, aus der Decke herausragendes kolophoniertes Scheibenrad. Dieses ist im Innern des Korpus befestigt und mit einer Kurbel an der Außenseite des Korpus verbunden, die der Spieler mit der rechten Hand dreht.

 

Drehleier [Bild 2]
[Brockhaus Riemann Musiklexikon,
Schott Mainz 1979, Bd. 1, S. 339]

Von den Saiten laufen eine oder zwei als Melodiesaiten vom Wirbelkasten aus durch einen auf der Decke befestigten Kasten, an der höchsten Stelle über das Rad und dann über einen dahinterliegenden Steg zu einem Saitenhalter. Aus dem kastenförmigen Aufsatz ragen Tasten heraus, die aus Holzschiebern mit aufgesetzten Tangenten bestehen. Der Spieler hält das Instrument mit den Tasten nach unten. Drückt er eine Taste nach oben, wird die Saite auf die gewünschte Tonhöhe verkürzt und der entsprechende Ton erklingt. Nach dem Loslassen fällt die Taste in den Ruhezustand zurück. - Die Bordunsaiten sind zu beiden Seiten des Tangentenkastens über das Rad gezogen und in Quinten bzw. Oktaven zum Grundton der Melodiesaite(n) gestimmt. - Die einzelnen Saiten können abgestellt, d.h. vom Rad entfernt werden.

Drehleier [Bild 3]
[Honegger/Massenkeil. Das Große Lexikon der
Musik, Verlag Herder Freiburg i. Br. 1878 und
1987. Bd. 2, S. 358]

 

Über das Drehen der Kurbel setzt der Spieler das Rad in Bewegung, das alle vorhandenen Saiten gleichzeitig in Schwingung versetzt. Es erklingt immer eine Melodie mit Borduntönen. So wie bei der Sackpfeife Unterbrechungen zum Atemholen durch den Sack entfallen, wird bei der Drehleier durch das Rad der Bogenwechsel vermieden. Beide Instrumente zeichnen sich demzufolge durch einen Permanenzklang aus.

 

Drehleier [Bild 4]
[versch. Ansichten des Instruments (Florenz,
Conservatorio di Musica Luigi Cherubini):
Wolfgang Ruf: Lexikon Musikinstrumente,
Meyers Lexikonverlag Mannheim, 1991,
S. 110]

Bei manchen Instrumenten ist eine Bordunsaite, die Schnarrsaite, über einen kleinen, lose in einen größeren Steg eingesteckten, asymmetrisch geformten, mit einem Damenschuh vergleichbaren Steg geführt. Bei gleichmäßiger Umdrehung des Rades erklingt die Schnarrsaite nur als Bordunton.

 

Ruckweises Drehen der Kurbel regt den losen Stegfuß, den „Absatz“, so an, dass er die Saitenschwingung auf die Decke überträgt und ein Schnarrgeräusch entsteht. Dieser Schnarrton wird zur Rhythmisierung des Permanenzklanges eingesetzt. An dem sauber akzentuierten und an den richtigen Stellen eingesetzten Schnarrton zeigt sich das Können des Spielers.

 

Geschichte:

Drehleier [Bild 5]
[Organistrum
Darstellung der 24 Ältesten an der
Pórtica de la Gloria von
Santiago de Compostela:
MGG Sachteil 2, Bärenreiter
Kassel 1995, Spalte 1505]

Der Entstehungsort der Drehleier ist unbekannt, ein erster sicherer Beleg führt ins 12. Jh., wo zwei verschiedene Formen nachweisbar sind: Auf dem Organistrum, einem großen Instrument mit 5 - 12 Tangenten, drei Bordunsaiten und einem Umfang von bis zu 2 diatonischen Oktaven, wurde in Kirchen und Klöstern musiziert. Für dieses Instrument, das für das 12. - 14. Jh. nachgewiesen werden kann, benötigte man zwei Spieler: der eine drehte die Kurbel und der andere bediente die Tangenten. So zu sehen am Portal von Santiago de Compostela, Spanien, oder an Kapitellen in der Normandie. - Die Symphonia hingegen ist ein kleineres Instrument, für das nur ein Spieler nötig war. Auch hier finden sich Abbildungen an Kapitellen oder in Miniaturen. - Beide Instrumente müssen hohes Ansehen genossen haben, denn man sieht sie auf zahlreichen Darstellungen in den Händen von König David, von Engeln oder höfischen Musikern.

 

Mit dem ausgehenden Mittelalter setzt der „soziale Niedergang“ des Instruments ein: Bereits Ende des 14. Jh. ist es als Instrument den Bauern, Bettlern und Blinden vorbehalten, woher auch der Name Bauern- oder Bettlerleier resultiert.

 

Drehleier [Bild 6]
[David Munrow: Musikinstrumente des Mittelalters und der Renaissance, Celle, 1980, S. 29]

 

In der Musica getutscht von Sebastian Virdung wird das Instrument 1511 als Lyra bezeichnet und zeigt die typische eingebuchtete oder achtförmige Gestalt, ähnlich der Fidel. Michael Praetorius nennt 1619 die Bawren vnnd vmblauffenden Weiber Leyre.

 

Im 17. und vor allem im 18. Jh. erlebte die Drehleier eine Renaissance in Frankreich: zusammen mit der Musette, einer verfeinerten Sackpfeife, war es das passende Instrument für die Schäferidylle des Adels. Mit der Drehleier holte man sich das „Instrument der Schäfer“ in die aristokratischen Salons. Es wurde zum Modeinstrument der Zeit, für das J. Bodin de Boismortier, J.Ch. Naudot, E.-Ph. und N. Chédeville, A. Vivaldi sowie M. Corrette Stücke komponierten oder Drehleierschulen schrieben.

Der Lautenmacher Henri Bâton entwickelte um 1720 einen neuen Drehleier-Typ: Aus vorhandenen, unverkäuflich gewordenen Lauten baute er vielles en luth.

 

Die Form des Lautenkorpus ist in der Folge wegen seiner hervorragenden Klangeigenschaft von den Instrumentenbauern bevorzugt verwendet worden. Zahlreiche ausgesprochen wertvolle Instrumente aus dieser Zeit haben überlebt. Mit der Französischen Revolution fand diese Mode ein abruptes Ende.

 

Drehleier [Bild 7]
[Wandernde Musikanten mit
Drehleier und Triangel
anonymer Kupferstich, 17. Jh.]

Für eine mit Orgelpfeifen versehene Sonderform der Drehleier, Vielle organisé bzw. Lira organizzata komponierten Gyrowetz, Pleyel, Sterkel und J. Haydn.

 

Als Bettlerinstrument überlebte die Drehleier bis ins 19. Jh. in vielen Ländern Europas. So steht in Schuberts Lied Der Leiermann die Nachahmung der Drehleier für die Armseligkeit des Spielers.

 

Lediglich in Nordspanien, Ungarn und in Mittelfrankreich hat die Drehleier eine ungebrochene Tradition, in allen anderen Ländern verschwand sie gegen Ende des 19. Jh. ganz.

 

Das Instrument in unserer Ausstellung stammt aus der Werkstatt von Helmut Gotschy, Wain, und ist dem bei Praetorius 1619 abgebildeten Instrument mit kleinen Abweichungen nachgebaut (vgl. Titelblatt).

 

Drehleier [Bild 8]
[Johann Christoph Weigel: Musicalisches Theatrum,
Faksimile-Nachdruck hrsg. von Alfred Berner,
Bärenreiter Kassel 1964, Blatt 36]

Eine weitere Abbildung dieses Instrumentes findet sich etwa 80 Jahre später: Die Leyrerin von J.C. Weigel hält sie in den Händen.

 

Literatur:

John Henry van der Meer: Musikinstrumente. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 1983, S. 81ff.
David Munrow: Musikinstrumente des Mittelalters und der Renaissance, Celle, 1980, S. 72ff.
Musikinstrumente der Welt. Eine Enzyklopädie mit über 4000 Illustrationen, Gütersloh 1981.
Curt Sachs: Real-Lexikon der Musikinstrumente zugleich ein Polyglossar für das gesamte Instrumentengebiet, 3. unveränderter Nachdruck der Ausgabe Berlin 1913, Hildesheim 1979.
div. Lexika: Grove, Honnegger/Massenkeil, MGG 1 + 2, Riemann, Ruf.
Die Abbildung auf der Titelseite ist aus: Michael Praetorius: Syntagma Musicum II, 1619.