Entstehung Weihnachtshistorie SWV 435

Die Komposition der Weihnachtshistorie (SWV 479) geht, ebenso wie die Vervollständigung des Becker-Psalter, auf eine Anregung Johann Georg II. zurück. Im Alter von fast 80 Jahren komponierte Schütz die Historia der freuden- und gnadenreichen Geburt Jesu Christi. Im ausführlichen Titel wird ausdrücklich noch mal erwähnt: wie dieselbe auf Anordnung Johann Georgs des Anderen vocaliter und instrumentaliter in die Musik versetzet ist durch Heinrich Schütz.

Die aus zehn Konzerten (Introduktion, acht Intermedien, Beschluß) und dazwischen eingeschalteter Evangelistenpartie bestehende Weihnachtshistorie hat sich in drei Fassungen, jedoch nur unvollständig erhalten und zwar als Frühfassung SWV 453a, Zweitfassung 453 und Berliner Fassung SWV 435b. Der von Schütz nicht selbst herausgegebene Erstdruck von 1664 bietet lediglich Notation und Textworte zur Evangelistenpartie, von den zehn Konzerten nur die Textworte, ohne zugehörige Notation. Die Stimmen aus den Konzerten behielt Schütz absichtlich zurück. Wir erfahren, aus dem vermutlich von Alexander Hering, Kantor aus Dresden, verfassten Nachwort, dass der Autor glaubte, sein Werk könne nur von den fürstlichen Kapellen effektvoll und gut intoniert aufgeführt werden. Interessenten konnten jedoch eine Abschrift des Werkes käuflich erwerben.

Wie 1623 die Oster-Historie von Antonius Scandellus durch die Auferstehungshistorie von Schütz abgelöst wurde, so wollte der Fürst scheinbar, dass nunmehr auch die bisher übliche Weihnachts-Historie durch eine solche von Schütz ausgetauscht wurde. Die Bitte dafür scheint Johann Georg II. zwischen 1657 und 1660 geäußert zu haben und Schütz' erste Fassung wurde 1660 abgeschlossen. Diese erste Fassung überarbeitete Schütz und gab sie 1664 zum Druck. Auch diese Druckfassung erlebte eine Überarbeitung mit einer Reihe von Korrekturen. Schütz gab jedoch nur noch mal die Rezitative - die Partien der Evangelisten nebst Generalbassstimme - heraus. Mit seinem Vorwort zur Ausgabe gibt Schütz dem Musiker eine "Gebrauchsanweisung", wie er entsprechend seiner Gegebenheiten und Möglichkeiten die Historia aufführen kann.

Die "Berliner Fassung", die Max Schneider auffand, ist vermutlich die letztgültige Fassung der Historia. Sie ist nur unvollständig überliefert und entstand um 1671. In Gliederung, Text und liturgischer Stellung entspricht sie der Fassung von 1664.

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Analyse Weihnachtshistorie SWV 435

Die Weihnachtshistorie gliedert sich in eine Introduktion und einen Beschluß; zwischen diesem Anfangs- und Endpunkt liegen 9 Rezitative und 8 Intermedien. Die Partien des Evangelisten weisen auf die Einmaligkeit laut Dresdner Kantor Alexander Hering der Historie hin; sie sind im Stylo recitativo abgedruckt. Das bedeutet, dass die Rezitative mit der über die Worte geführten Modulationen und Mensur aber zugleich auch im "alten Charakter redenden Stilo" singbar sind!

Die Intermedien sind geistliche Konzerte; bei Schütz bilden sie eine Fortsetzung der Texte, deren Inhalt im Rezitativ angekündigt wird! Bei Schütz deutet der Wechsel von Rezitativ und Intermedium einen Wechsel der Kompositionsweise an, bei denen zwischen rezitativischen und konzertantem unterbrochen wird. Die Besetzung, sowohl vokal als auch instrumental, wird von Schütz bewußt konzipiert und komponiert. Dadurch entsteht eine Folge von farbenfrohen, von der dramatischen Erzählung zusammengesetzten musikalischen Bildern.
Den beteiligten "Handlungsträgern" - Engel-Solosopran, Engelchor-gemischter 6stimmiges Ensemble, Hirten-drei Altstimmen, Weisen aus dem Morgenlande-drei Tenöre - werden obligate Instrumente zur Seite gestellt; den Gesang der Engel umrahmen zwei "Violetten" (Gamben), den des Engelchores und den der Weisen zwei Violinen und das Fagott. Beiden ist auch das Saitenspiel zugeordnet, da die zwei Gruppen zu den Boten (Boten Gottes und Boten aus der Ferne, die den König der Könige suchen) gezählt werden. Die Hirten werden durch pastorale Blockflöten und das Fagott gekennzeichnet, das Baßquartett der Hohenpriestern und Schriftgelehrten durch zwei Posaunen. Herodes bekommt mit den Trompeten das klassische Königsattribut. Durch die Zuordnung entsteht eine doppelte Funktion von Symbol- und Klangrealität, d.h., die Instrumente übernehmen einen Teil der Textauslegung. Den Text bilden die entsprechenden Teile aus den Evangelien des Lukas und Matthäus.

Heinrich Schütz' Weihnachtshistorie war die erste Historie, in der der chorale Lektionston und die rezitativische Erzählmelodie gleichwertig dokumentiert sind. Zugleich war sie die erste Historie, bei der die Ganzheit des Singens und Spielens der Übersetzung des Wortes in die Musik dienstbar gemacht wurde. Die nachfolgenden Werke gaben den Charakter der Historie auf und gingen den Weg zu Kantate und zum Oratorium. (Brodde, S. 256)

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Rezeption Weihnachtshistorie SWV 435

Im Nachwort der Notenausgabe zur Weihnachtshistorie führt der Herausgeber Friedrich Schöneich ein Zitat von Hans Joachim Moser an: Auch heute wieder beglückt das Werk jung und alt, wo immer man es aufführt - und das ist (gottlob!) gar nicht so selten mehr der Fall. (NSA, Nachwort, S. 82)

Die Weihnachtshistorie avancierte zur klassisch-populärsten Komposition Schütz'. Aus Sorge um eine würdige Wiedergabe gab Schütz das Werk damals nur teilweise heraus. Er ließ nur die Evangelistenstimmen mit Continuo drucken und behielt die Stimmen des Concertenchors handschriftlich zurück; diese konnten bei Interesse beim Thomaskantor Sebastian Knüpfer oder beim Kreuzkantor Alexander Hering gegen Gebühr erworben werden. Die Weihnachtshistorie kam auch erst im Zuge der Schütz-Renaissance wieder zu ihrer Geltung; speziell 1901bekam die praktische Schütz-Pflege einen besonderen Auftrieb. Philipp Spitta brachte 1885 als Band I seiner Schütz-Gesamt-Ausgabe die Evangelistenpartien der Weihnachtshistorie in Anlehnung an den Erstdruckes von 1664 heraus. (Brodde, S. 293) Die Handschriftlich überlieferten Teile (Eingangs- und Schlusschor und Intermedien) ließ Schütz ja nicht drucken; diese wurden 1908 von Arnold Schering in Uppsala entdeckt und 1908 veröffentlicht. Arnold Mendelssohn jedoch war es, der bereits 1901 die Weihnachtshistorie der Praxis zugänglich machte, in dem er Schütz' Anweisungen folgend die fehlenden Stücke neu komponierte. Diese Einrichtung der Weihnachtshistorie nach Mendelssohn wurde bis in die 1920er Jahre genutzt und aufgeführt.

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Originale Vorreden Weihnachtshistorie SWV 435

Vorrede zur "Historia von der Geburt Jesu Christi"

Dem gönstigen Leser, für welchen dieser Abdruck kommen möchte, wird zu kurtzer Nachrichtung vermeldet:
Daß diese gantze Handlung von dem Authore auff zwey unterschiedene Chore eingerichtet worden ist, nemblich in den Chor des Evangelisten, und den Chor der Concerten in die Orgel. Des Evangelisten Chor, bestehet in denen dreyen hierbey sich befindenden Abdrücken, deren einer für die Vocal-Stimme, der andere für die Orgel, und der dritte für die Baß-Geige oder Violon gerichtet ist. Und wird der verständige Director zu des Evangelisten Partey eine gute, helle Tenor-Stimme zu erwehlen und gebrauchen wissen, von welcher die Worte (: ohne einige Tactgebung mit der Hand :) nur nach der Mensur einer vernehmlichen Rede abgesungen werden mögen. Und läßet Herr Author im übrigen, wie weit dieser des Evangelistens im Stylo Recitativo neue, und bißhero in Teutschland seines Wissens, im Druck noch nie herfür gekommene Aufsatz, beydes mit der über die Worte von Ihm geführten Modulation und Mensur, Ihm gelungen oder mißlungen sey, verständige Musicos gerne davon urtheilen. Dieses nur noch hierbey erinnernde, daß so jemand des alten choraliter redenden styli (: worinnen die Evangelisten in der Passion oder auch andern geistlichen Geschichten, bißher in unsern Kirchen ohne Orgel pflegen abgesungen zu werden :) sich lieber gebrauchen wolte, daß hierinnen dieser sein Aufsatz Ihm verhoffentlich auch nicht gar weit außer Handen gehen würde, wenn auff nachfolgende angefangene Weise, Er biß ans Ende continuiren und fortfahren thäte.
Den Andern in die Orgel concertirenden Chor anreichende. So begreifft derselbige in sich Zehen zu dieser Action gehörige Concerten, deren Beschaffenheit denn aus nachfolgender Specification zu ersehen, Insonderheit aber darbey mit stillschweigen nicht zu übergehen ist, daß der Author dieselben in Druck heraus zu geben dahero Bedencken getragen hat, alldieweil Er vermercket daß außer Fürstlichen wohlbestälten Capellen, solche seine Inventionen schwerlich ihren gebührenden effect anderswo erreichen würden: Stellete aber indessen, deme etwa belieben möchte sich umb eine Abschrifft derselbigen zu bewerben anheim, deßwegen entweder in Leipzig bey selbigen Cantori oder aber zu Dreßden, bey Alexander Hering Organisten in der Creutz Kirchen, sich anzumelden, worselbst mit des Authoris Bewilligung dieselbigen, nebenst diesen Dreyen Abdrücken zu den Chor des Evangelisten, umb eine billiche Gebühr zu erlangen seyn würden, Massen denn auch hierüber noch, Er denenjenigen, welche dieses seines Evangelistens, sich zu gebrauchen Lust haben möchten, es frey stellen thut, solche Zehen Concerten (: deren Texte auff diesen Abdrücken, auch mit zu befinden sind :) auff die ihnen beliebende Manier und vorhandenes Corpus Musicum, gar auffs neue anders selbst aufzusetzen, oder durch andere componiren zu lassen. Endlich dieses vorschützende, daß nur umb ersparung des mühsamen und weitläufftigen Abschreibens willen, Er etliche gar wenige Exemplar über diesen seinen Evangelisten Chor, hätte auflegen lassen, und ausser dem, denselben auch zurücke gehalten haben würde.


Specification deren von Autore zu dieser Handlung
eingerichteten
10. Concerten in die Orgel.

Die Introduction oder Eingang: Die Geburt unsers Herren Jesu Christi, wie uns etc. A 9. in 2
starcke Chore, der eine von 4. Vocal und der andre von 5. InstrumentalStimmen.
Intermedium 1. Der Engel zu den Hirten auff dem Felde: Fürchtet euch nicht. Eine
Discantstimme alleine mit 2. Violetten und 1. Violon. Worunter des ChristKindleins Wiege bißweilen mit eingeführt.
Intermedium 2. Die Menge der Engel. Ehre sey Gott. ab 8. 6 Vocal-stimmen 2 Violinen, mit einem Complement, si placet, von Violen.
Intermedium 3. Die Hirten. Lasset uns nun gehen. 3. Altstimmen 2. Flöten und ein Fagott.
Intermedium 4. Die Weysen. Wo ist der neu geborne. 3. Tenor-stimmen, 2 Violini und ein Fagott.
Intermedium 5. Die Hohepriester. Zu Bethlehem. 4. Basz-stimmen und 2. Trombonen.
Intermedium 6. Herodes. Ziehet hin und forschet. Eine Basz-stimme alleine, 2. Clarin oder Cornetten.
Intermedium 7. Der Engel zu Joseph. Stehe auf. Eine Discant-stimme, 2. Violen, ut supra die Wiege.
Intermedium 8. Der Engel zu Joseph in Egypten, Stehe auf Joseph. 1. Discant-stimme, 3. Violen. Wiege.
Der Beschluß, in der ausstellung des Eingangs.

[in: Erich H. MÜLLER: Heinrich Schütz. Gesammelte Briefe und Schriften, Regensburg o. J. (1930), S. 285 - 288.]

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Widmungsträger Weihnachtshistorie SWV 435

Schütz widmete seine Historia der Geburt Jesu Christi keiner speziellen Persönlichkeit. Jedem jedoch, der dieses Alterswerk aufführen möchte, gibt er Hinweise, die in seiner Vorrede abgedruckt vorliegen. Ein derartig wichtiges Werk im Kirchenjahr könnte von Schütz nie nur einer Person zugeschrieben werden, denn dafür ist es von zu großer, allgemeiner Bedeutung und Wichtigkeit - keinem soll und darf die vertonte Weihnachtsbotschaft vorenthalten werden.
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Quellen Weihnachtshistorie SWV 435

Klang:
Heinrich SCHÜTZ: Historia der Geburt und Auferstehung Jesu Chrsiti. Kammerchor Stuttgart, Musica Fiata Köln, Ltg.: Frieder Bernius. Sony Classical 1990

Noten:
Heinrich SCHÜTZ: Historia der Geburt Jesu Christi. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 1, hrsg.: Friedrich Schöneich, Kassel 1955

Abbildungen:
Titelbild: Druckfaksimile, Archiv Heinrich-Schütz-Haus Bad Köstritz

Literatur:
Martin GREGOR-DELLIN: Heinrich Schütz. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit. München 1984
Otto BRODDE: Heinrich Schütz. Weg und Werk. Kassel 1972
Michael HEINEMANN: Heinrich Schütz und seine Zeit. Laaber 1993
Heinz KRAUSE-GRAUMNITZ: Heinrich Schütz. Sein Leben im Werk und in den Dokumenten seiner Zeit. 2 Bde., Leipzig 1985
Erich H. MÜLLER: Heinrich Schütz. Gesammelte Briefe und Schriften, Regensburg o. J. (1930)

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